Zwei Tage erbitterter Kämpfe in der irakischen Stadt Diwanijah sind ein neues klares Anzeichen dafür, dass sich die US-Armee auf eine blutige Auseinandersetzung mit den Milizen des schiitischen Geistlichen Muktada al Sadr vorbereitet. Die neue Offensive wird sich nicht bloß gegen Sadrs Mahdi-Armee, sondern gegen die arme schiitische Stadtbevölkerung insgesamt richten, die der US-Besatzung größtenteils feindlich gegenübersteht. So waren es überwiegend schiitische Einwohner, die am 4. August zu Tausenden auf die Straße gingen, um gegen den amerikanisch-israelischen Krieg im Libanon zu demonstrieren.
Zu den Kämpfen im 180 Kilometer südlich von Bagdad gelegenen Diwanijah kam es am Sonntag, als Regierungssoldaten ein Mitglied der Sadristen-Bewegung festnahmen, das angeblich einen Bombenanschlag geplant hatte. Armeeangaben zufolge starben bei den Kämpfen 23 Soldaten, 30 Milizionäre und zahlreiche Zivilisten. Generalmajor Othman al Ghanimi beschuldigte die Milizen, mehrere Soldaten öffentlich exekutiert zu haben; die Sadristen widersprachen dieser Behauptung.
Nasir al Saadi, Sprecher des parlamentarischen Flügels der Sadristen, sagte der New York Times, die Armee habe am späten Sonntagabend Hochburgen der Mahdi-Armee angegriffen, Häuser beschädigt und Zivilisten getötet. Die irakischen Soldaten wurden von polnischen Einheiten und amerikanischen Kampfjets verstärkt, und mindestens ein vermeintlicher Milizposten wurde bombardiert. Die Armee sagte, bei den bis zum Montagnachmittag andauernden Kämpfen hätten die Mahdi-Soldaten die Unterstützung weiterer Milizgruppen genossen.
Das amerikanisch geführte Militärkommando in Bagdad gab eine Erklärung heraus, in der es hieß, Armee und Polizei hätten einen Angriff zahlreicher "Terroristen" in drei Stadtvierteln von Diwanijah erfolgreich "abgewehrt". Berichte von Associated Press zitierten dagegen einen Hauptmann der Armee namens Fatik Aied, der sagte, die Schießereien seien ausgebrochen, weil irakische Soldaten Razzien in den südlichen Vororten der Stadt begonnen hatten, um Milizen aufzuspüren und Waffen zu beschlagnahmen. Befragt nach den Zusammenstößen mit irakischen Soldaten erklärte ein beteiligter Kämpfer der Mahdi-Miliz gegenüber der New York Times : "Wir wissen, dass sie unsere Brüder sind, aber die Amerikaner hetzen sie auf uns."
Die US-Armee behauptete zwar, sie habe in Diwanijah den Sieg davongetragen, doch selbst nachdem das Militär Verstärkung erhalten hatte, waren die Kämpfe noch nicht entschieden. Sie wurden erst eingestellt, als ein Waffenstillstand ausgehandelt worden war. Sadr beteiligte sich persönlich an den Verhandlungen mit Provinzpolitikern und versuchte, sich von den Kämpfen zu distanzieren. Saheb al Ameri, ein Sprecher der Sadristen in Nadschaf, sagte, das "persönliche Verhalten" einiger Mitglieder der Mahdi-Armee sei schuld an den Kämpfen. Aber die Bemühungen der Sadristen-Bewegung, die Schlacht in Diwanijah herunterzuspielen, können eine größere Konfrontation mit der US-Armee nicht mehr verhindern.
In der amerikanischen Presse erschienen mehrere Artikel, die Sadr und seine Mahdi-Armee für die Eskalation religiöser Konflikte im Irak verantwortlich machen und von Premierminister Nuri al Maliki ein hartes Durchgreifen verlangen. Nach den Massenprotesten in Bagdad gegen den Libanonkrieg Anfang August hatte der scheidende britische Botschafter William Patey in einem öffentlich gewordenen Memo erklärt: "Es wird vorrangige Aufgabe sein, die Dschaisch al Mahdi [Mahdi-Armee] aufzuhalten, ehe sie sich wie die Hisbollah im Libanon zu einem Staat im Staate entwickelt."
Pateys Bemerkungen geben die Ansichten von General John Abizaid wieder, dem US-Kommandanten im Nahen Osten, der Ende Juli im nationalen Rundfunk erklärt hatte, eine Konfrontation mit der Mahdi-Armee sei unvermeidlich. "Wenn es nicht dazu kommt, werden wir am Ende eine Situation wie im Libanon haben, wo die Miliz zum Staat im Staate geworden ist." Vor dem Streitkräfteausschuss des amerikanischen Senats erklärte Abizaid: "Meiner Meinung nach gibt es in der Mahdi-Armee Gruppen, die von der iranischen Regierung finanziert werden und terroristische Organisationen sind."
Paradoxerweise sind die Sadristen, die sich am arabischen und irakischen Nationalismus orientieren, von allen irakischen Schiitenorganisationen diejenigen, die am allerwenigsten von iranischer Hilfe abhängig sein dürften. Die Partei mit den engsten Verbindungen zum Iran ist dagegen der Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI). Diese Partei hat mit Teherans stillschweigender Zustimmung die US-Besatzung von Anfang an unterstützt und ist eine wichtige Stütze der Maliki-Regierung.
Ein Artikel der Washington Post mit dem Titel "Sadrs Miliz und das Blutbad auf den Straßen" beschuldigte die Mahdi-Armee, willkürlich Sunniten umzubringen. US-Oberstleutnant Mark Meadows sagte der Zeitung: "Ich habe keine Zweifel [...], dass sie Gerichtsprozesse abhalten und Menschen exekutieren." Er beschrieb die Mahdi-Armee als " die wahrscheinlich größte und aggressivste Miliz im Land. [...] Sie ist eine Terrororganisation. Sie terrorisiert die Menschen."
Nach den Kämpfen von Diwanijah veröffentlichte die Times gestern einen Artikel mit der Überschrift: "Test gegen irakische Milizen nicht bestanden". Mit folgenden Worten wurde darin für die Ausweitung der Offensive geworben: "Seit Wochen kämpfen die amerikanischen und irakischen Soldaten gegen einen Feind, den sie nicht einmal so nennen dürfen: Muktada al Sadrs Mahdi-Armee. Und nach den schweren Kämpfen vom Montag scheint es, dass Regierung und Armee im Irak nicht weiter gehen wollen, als die mächtige schiitische Miliz einzudämmen."
Die Angriffe in Diwanijah, hinter denen die USA stehen, sind offenbar ein wichtiger Test für weitere Angriffe auf die Sadristen-Bewegung, besonders in den riesigen Slums von Sadr-City in Bagdad. Diese Schiitenviertel sind für US-Truppen und ihre Verbündeten praktisch nicht betretbar, seit die Mahdi-Armee sich 2004 in der Hauptstadt und den Städten Nadschaf und Kerbela im Südirak offene Schlachten mit der US-Armee lieferte. Während der jüngsten US-Operationen zur Rückeroberung Bagdads hat das amerikanische Militär Sadr-City bisher immer vermieden.
Jede Offensive gegen die Mahdi-Armee wird schnell eine Krise in der Maliki-Regierung provozieren, die sich auf eine Koalition mit schiitisch-fundamentalistischen Parteien stützt. Die Sadristen-Bewegung stellt dreißig Abgeordnete im Parlament und fünf Minister im Kabinett; über Schlüsselministerien kontrolliert sie staatliche Stellen und Dienste. Und was für Maliki noch wichtiger ist: Nur mit Hilfe der Sadristen war seine Regierung bisher in der Lage, die armen Schiiten in Schach zu halten. Der Zorn dieser Bevölkerungsgruppe wächst, weil Maliki und seine Regierung nicht in der Lage sind, die US-Besatzung zu beenden und den Lebensstandard anzuheben.
Ein militärischer Angriff auf die Sadristen-Hochburgen würde außerdem die tief gespaltenen Sicherheitskräfte des Landes auseinanderbrechen lassen. Schiitische Soldaten, von denen viele ehemalige Milizionäre sind, könnten sich schlicht weigern, gegen die Mahdi-Armee zu kämpfen. Die Los Angeles Times wies am Dienstag darauf hin, dass hundert irakische Soldaten, die zu einem 550 Mann starken und in der südöstlichen Provinz Maysan stationierten Bataillon gehören, sich letztes Wochenende einer Verlegung nach Bagdad widersetzt haben. Diese Weigerung der schiitischen Soldaten war besonders peinlich, da diese Einheit und ihr Kommandant dem US-Militär als eine der besten in der irakischen Armee gelten.
Seit den Zusammenstößen mit der US-Armee 2004 versucht Sadr selbst, einen zunehmend schwierigen Balanceakt zu vollführen: Einerseits bilden die verarmten Schiiten die gesellschaftliche Basis, auf die er und seine Bewegung sich stützen, andererseits unterstützt er die Marionettenregierung der USA. Sadr sah sich gezwungen, den amerikanisch-israelischen Krieg im Libanon zu verurteilen, und die USA vor einem Angriff auf den Iran zu warnen. Gleichzeitig versuchte er, seine Mahdi-Armee unter Kontrolle zu halten und sich von den radikaleren Elementen in den Reihen seiner Bewegung zu distanzieren.
Sadrs Manöver werden eine umfassende Offensive der US-Armee nicht verhindern. Je weiter die US-Besatzung im Sumpf des katastrophalen Kriegsabenteuers versinkt, desto verzweifelter sind die Maßnahmen, zu denen sich die Bush-Regierung getrieben fühlt. Die Verurteilung von Sadrs "Staat im Staate" zeigt, wie groß die Angst vor Enklaven wie Sadr-City ist, wo die schiitische Arbeiterklasse lebt. Sie könnten zum Brennpunkt für eine Radikalisierung werden, die sich gegen die US-Besatzung im Irak und die militaristische Politik Washingtons in der ganzen Region richtet. Die Gefahr ist für die Vereinigten Staaten umso größer, da sie ihre Konfrontation mit dem Iran verschärfen.
Diese Erwägungen treiben die US-Armee in zunehmend gewagte und blutige Operationen gegen die Mahdi-Armee, ohne Rücksicht auf die Folgen zu nehmen.